Gwendolyns & Jerrys Gasthaus

Gegenwart

 

»Ich möchte dich wirklich nicht belästigen, Liebes. Es ist nur so, dass Jerry und ich uns beide große Sorgen um dich machen. Ich will nicht neugierig sein, aber ich muss darauf bestehen, dass du wenigstens die Tür öffnest und das Essen und den Tee annimmst, den ich für dich hingestellt habe, okay? Versprichst du mir, dass du es dir abholen wirst, sobald ich weg bin? Bitte iss etwas. Ich fürchte, ich werde vor lauter Sorge um dich kein Auge zumachen können, wenn du es nicht tust.«

Blaire seufzte, während sie die geschlossene Tür des kleinen Schlafzimmers anstarrte, denn sie wusste, dass die alte Frau nicht eher gehen würde, bis sie ihr antwortete.

Sicher würde sie es schaffen, das Wort ›Ja‹ deutlich auszusprechen, ohne dass Gwendolyn ihren Akzent aufschnappen würde. Dann würde sie vielleicht endlich in Ruhe gelassen werden. Und nach der Entscheidung, die sie gerade getroffen hatte, war allein sein alles, was sie wollte.

Ihr Herz schmerzte und jedes Mal, wenn sie an die Entscheidungen dachte, die sie in den nächsten Tagen treffen musste, wurde ihr Magen unruhig. Die Entscheidung, Adelle an ihrer Stelle zurückreisen zu lassen, war in dem Moment die richtige gewesen, aber mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde ihr bewusst, wie schlecht sie für das Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert gerüstet war. Gwendolyn war nicht die Einzige, die heute Nacht nicht schlafen würde, da war sie sich sicher.

Sie stählte sich, räusperte sich und antwortete Gwendolyn mit nur einem Wort.

»Ja.«

»Oh, gut. Allein deine Stimme zu hören, beruhigt mich etwas. Ich lasse dich jetzt allein, aber zögere bitte nicht, mich wissen zu lassen, wenn du noch etwas brauchst. Ich hoffe, du schläfst gut. Ich werde morgen früh nach dir sehen.«

»Wunderbar«, flüsterte Blaire sarkastisch vor sich hin. Sie wusste, dass die alte Frau es nur gut meinte, aber sie fürchtete sich bereits davor, wie ihre Interaktion nach einer Nacht voller Unruhe und schlechter Träume verlaufen würde. Ihre Stimmung würde am Morgen sicher noch schlechter sein als jetzt.

Sie wartete, bis das Geräusch von Gwendolyns Schritten nicht mehr zu hören war, bevor sie sich zur Tür bewegte. Kurz vorher hätte sie noch geschworen, dass sie keinen Appetit hatte, aber der würzige Geruch überwältigte sie und ihr Magen knurrte augenblicklich, als sie in den Flur spähte.

Vielleicht würde das Essen helfen, ihre Unruhe zu betäuben. Zumindest würde es ihr helfen, ihre Gedanken für ein paar gesegnete Minuten von allem abzulenken, was ihr Sorgen bereitete. Als sie zum Bett zurückkehrte, stellte sie das Tablett auf die Decke und betrachtete das Essen, das vor ihr stand.

Das frische Brot und die Suppe sahen köstlich aus, aber der Tee erregte ihre Aufmerksamkeit. Allein der Geruch schien etwas in ihr zu beruhigen. Sie seufzte, als der heiße Dampf über ihr Gesicht strich, griff nach dem kleinen Löffel neben der Teetasse und rührte die warme Flüssigkeit sanft um.

Blaire versuchte, den Tee mit Hilfe ihres Löffels abzukühlen und führte die Tasse an ihre Lippen, als der Dampf nachließ. Er schmeckte herrlich und als die Flüssigkeit ihre Kehle hinunterglitt, bemerkte Blaire, wie sich ihre Schultern ein wenig entspannten. Sie schob das Essen beiseite und nippte weiter an ihrem Tee. Zu ihrer Überraschung schienen all ihre Sorgen zu verschwinden, als ihre Augen schwer wurden und der Schlaf sich näherte, sobald sie den letzten Tropfen getrunken hatte.

 

* * *

Conall-Burg

Die Nacht von Ramsays Tod

 

»Was machst du noch hier, Mary? Du hättest schon längst von hier fortgehen sollen. Kip wird sich Sorgen um dich machen.«

Mary wies Arran mit einer Handbewegung ab.

»Kip ist schon seit einiger Zeit eingeschlafen. Die Aufregung des Tages hat ihn erschöpft. Er wird sich keine Sorgen machen, denn er wird nicht wissen, dass ich hier bin. Ich war eine Zeit lang zu Hause, aber ich konnte nicht schlafen. Schließlich habe ich beschlossen, dass es besser wäre, zurück zur Burg zu kommen und früh mit der Arbeit anzufangen. Wir müssen die Männer versorgen, die ihr Lager in der Burg aufgeschlagen haben.«

Arran gähnte und deutete auf Marys Arbeit.

»Kann ich dir bei irgendetwas helfen? Ich glaube, ich werde auch nicht schlafen können.«

Kopfschüttelnd wandte Mary sich von ihm ab.

»Nein. Dir Anweisungen zu geben, wie du helfen kannst, würde mich nur ausbremsen. Hast du überhaupt schon versucht zu schlafen? Dein Gähnen lässt mich glauben, dass du vielleicht leichter schlafen kannst, als du denkst.«

Das hatte er nicht. Zu sehen, wie Ramsay in ihrem Zuhause den Tod gefunden hatte, hatte so viel Adrenalin durch seinen Körper gejagt, dass er stundenlang zu aufgewühlt gewesen war, um zu schlafen. Aber vielleicht hatte Mary recht. Mit jeder Sekunde, die verstrich, schien seine Kraft zu schwinden, und schon bald war er erschöpfter, als er es je in seinem Leben gewesen war.

»Nein, aber ich denke, du hast recht. Ich werde mich jetzt zurückziehen.«

»Hier.« Mary reichte ihm einen Kelch mit einer milchigen Flüssigkeit. »Das sind nur ein paar Kräuter. Die helfen mir immer beim Einschlafen. Trink das, während du gehst, und du wirst schlafbereit sein, bevor du es zu deinem Bett schaffst.«

Als er Mary eine gute Nacht wünschte, tat Arran, was sie ihm aufgetragen hatte und nippte an dem Gebräu, während er zurück in sein Schlafgemach ging.

»Was hat die alte Frau da reingetan?«, flüsterte er vor sich hin, als seine Atmung sich beruhigte und seine Beine schwer wurden.

Er schaffte es gerade noch bis zu seinem Bett, bevor der Schlaf ihn fand.

 

* * *

Der Korridor, den er entlangging, war Arran unbekannt. Er war so viel kürzer als alle anderen im Schloss und der Boden unter seinen Füßen war nicht aus Stein, sondern aus Stoff – ein weicher Teppich, der die gesamte Länge und Breite des Bodens unter seinen Füßen auskleidete.  Eine Tür auf der linken Seite stach ihm ins Auge und er fühlte sich zu ihr hingezogen, begierig darauf, sie zu öffnen, obwohl er nicht wusste, was sich auf der anderen Seite befinden könnte.

Die Tür ließ sich leicht aufschieben. Er betrat den Raum, als sich die Tür hinter ihm von selbst schloss. Das Zimmer war dunkel, bis auf ein kleines Licht neben dem Bett. Eine Kerze, vielleicht? Allerdings flackerte es nicht wie eine. Fasziniert trat Arran näher an das Licht heran und bemerkte erst dann, dass eine Gestalt auf dem Bett schlief.

Blaire.

Seine geliebte Blaire.

 

* * *

Jemand berührte Blaire im Schlaf an der Schulter und schüttelte sie sanft, bis sie die Bewegung nicht mehr ignorieren konnte. Sie stöhnte, als sie sich mit geschlossenen Augen streckte, weil sie wusste, dass sie Gwendolyn sehen würde, wenn sie die Augen öffnete.

Sie war sich sicher, dass sie die Tür verschlossen hatte, nachdem sie ihr Essenstablett abgeholt hatte. War die alte Frau wirklich so dreist, das Schlafzimmer ohne Erlaubnis zu betreten?

Blaire hielt ihr linkes Auge geschlossen und öffnete ihr rechtes Auge gerade so weit, dass sie sehen konnte, ob sie schon in den Tag hineingeschlafen hatte.

Nein. Sie konnte durch das Fenster sehen, dass es draußen immer noch stockdunkel war.

»Blaire.«

Die Stimme ließ Blaire erschaudern. Arran. Sie würde seine Stimme überall erkennen. Sie kniff die Augen fest zu und wünschte, ihr Verstand würde sich auf einen anderen Traum umstellen – irgendetwas, nur das nicht.

»Blaire.«

Wieder drang seine Stimme in ihren schläfrigen Geist ein. Langsam öffnete sie die Augen.

Und da war er. Neben ihr. Er saß auf der Bettkante. Sein Blick verzweifelt und verwirrt. Ihre Schulter war warm, wo seine Hand sie berührte.

Erschrocken schreckte Blaire hoch und rutschte im Bett zurück, bis ihr Rücken gegen das Kopfteil drückte.

Wie konnte er hier sein? Das konnte er nicht sein. Nicht wirklich. Oder doch?

»Arran? Was … Was machst du hier?«

Er schüttelte sanft den Kopf und sein Gesicht spiegelte ihre eigene Verblüffung wider.

»Ich weiß es nicht. Ich bin eingeschlafen und als ich aufgewacht bin, war ich hier, vor deinem Zimmer.«

Natürlich. Die Erkenntnis traf sie augenblicklich. Arran war nicht hier. Sie schlief immer noch tief und fest, ganz allein in einem ihr völlig fremden Jahrhundert. Sie träumte das alles nur.

Sie starrte ihn an und all der Schmerz, den sie empfunden hatte, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, kehrte zurück und ließ ihr die Tränen in die Augen schießen.

»Bitte weine nicht. Blaire, ich weiß nicht, wie oder warum ich hier bin, aber ich muss dir etwas sagen, solange ich die Möglichkeit dazu habe. Ich habe es nicht so gemeint. Kein einziges Wort. Seit du gegangen bist, bereue ich alles, was ich zu dir gesagt habe, jeden wachen Moment. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Du musst wissen, was ich wirklich für dich empfinde.«

Blaire sog einen zittrigen Atemzug ein, als sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Ihre Gefühle beruhigten sich, als sie lächelte. Was für ein seltsames Gebilde der Verstand doch war. Wie hart er wohl arbeiten musste, um den Schmerz von uns fernzuhalten. Es überraschte sie nicht, dass es das war, was Arran in ihrem Traum zu ihr sagte – genau das, was sie so verzweifelt von ihm zu hören wünschte – die Worte, die er niemals sagen würde. Dass er es nicht so gemeint hatte. Dass er dasselbe fühlte wie sie.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sich ihrer Träume jemals zuvor so bewusst gewesen war, aber jetzt, da sie wusste, dass sie träumte, kam ihr der Gedanke, dass sie es genauso gut ausnutzen konnte. Wenn ihr Geist so entschlossen war, ihr ein besseres Gefühl zu geben, warum sollte sie dann nicht alles aus dieser seltsamen Erfahrung herausquetschen, was sie konnte?

»Ich weiß, Arran. Ich weiß. Wirst du mich küssen? Ich muss dich an spüren, bevor das hier endet.«

Ein Stöhnen entwich Arrans Lippen, als er sich auf sie zubewegte und nach ihrer Hand griff, um sie zu sich zu ziehen, während er seine Lippen auf die ihren presste.

Die Luft rauschte aus ihrem Körper, als er sich zu ihr lehnte und sein Kuss ließ Hitze über ihre Haut strömen, während sie sich in seiner Berührung verlor.

Gott, wie sehr sie sich nach ihm gesehnt hatte. Sie hatte auch von ihm geträumt, aber nie so wie jetzt. Noch nie hatte sie so viel gefühlt, während sie geschlafen hatte.

Sie bewegten sich zusammen, ihr Kuss war voller Verzweiflung, und sie hielten sich gegenseitig fest.

Wie lange sie sich küssten, wusste sie nicht, aber als sich alles zu verändern begann, konnte sie es spüren. Ihre Arme begannen zu kribbeln, ihre Haut wurde kalt, und gerade als die neuen Empfindungen zu intensiv wurden, als dass sie sie ignorieren konnte, zog Arran sich zurück. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Blaire, ich will nicht gehen.«

Sicher war der Traum noch nicht zu Ende. Sie griff nach ihm, presste ihre Lippen auf die seinen, um den Traum zu verlängern, aber die Kälte in der Luft nahm weiter zu und er zog sich wieder von ihr zurück.

»Es ist zu Ende.«

»Nein. Ich kann weiterschlafen. Ich weiß, dass ich es kann. Geh nicht weg.«

Vor ihren Augen begann Arran zu verschwinden und seine Gestalt wurde immer durchsichtiger.

»Komm zurück zu mir, Mädchen. Bitte, wenn du einen Weg finden kannst, komm zurück.«

Mit dem nächsten Blinzeln war er verschwunden. Als Blaire ihre Augen öffnete und die Sonne durch das Fenster strömte, begann sie zu weinen.

Es war wirklich alles nur ein Traum gewesen.

 

* * *

Als er erwachte, schien dieselbe kalte, steinerne Decke starrte, unter der er sein ganzes Leben lang geschlafen hatte, ein grausamer Scherz zu sein. Vor allem nach dem Traum, der ihn in der Nacht ereilt hatte.

Jeder Moment hatte sich so wirklich angefühlt. Wenn er seine Augen schloss, konnte er sie immer noch sehen, konnte immer noch den blumigen Duft ihres Haares riechen, konnte ihre weichen Lippen immer noch auf seinen eigenen spüren.

Seufzend schloss er die Augen und sprach ein leises Gebet, von dem er hoffte, es würde Blaire irgendwie über die Jahrhunderte hinweg erreichen.

»Tu, worum ich dich gebeten habe, Mädchen. Bitte komm zurück zu mir. Bitte komm nach Hause.«